Nürnberger Nachrichten - 23/01/2018 

VON REINHARD KALB


So eine Spieldose ist doch etwas Feines. Man klappt sie auf, und schon erklingt eine Melodie, wie von kleinen Glöckchen angeschlagen, während sich dazu eine Ballerina, ein Liebespaar oder ein grübelnder Komponist im Kreise drehen. Aber kann man damit ein Konzert bestreiten? Das Kölner Trio „Il Lusorius“ stellte sich im Kulturforum beim jüngsten Streich der „Passagen“-Reihe diesem Wagnis. Auf dem Tisch steht ein gutes Dutzend historischer Spieldosen in Babyrosa oder in bunten, inzwischen leicht abgeblätterten Farben, mit Figürchen oder ohne. Meike Herzig greift zur ersten Spieldose, eine Kamera überträgt das Instrument in Großaufnahme auf die Leinwand über der Bühne. Eine Ballerina rotiert, und eine muntere glockenzarte Weise ertönt, die jedem Hardrock-Fan das Herz hüpfen lässt. Das ist doch tatsächlich Deep Purple, „Made in Japan“, die Stelle im Song „Lazy“, an der Ritchie Blackmore unvermittelt einen Ländler vor sich hin zupft. Tatsächlich hat er es sich von Hugo Alfven geborgt, die Melodie heißt „Schwedenmädel“. Oder lauschte auch Klein Ritchie seinerzeit einer Spieluhr? Die Weise wiederholt sich noch und nöcher, dabei verliert das Walzwerk der Spieldose zuhörends an Tempo. Kaum hat sich das Publikum eingehört, gesellen Meike Herzig und Annette Maye weitere Töne hinzu, die aber so gar nicht zu der süssen Melodie passen wollen. Dumpfe, schnarrende Blas- und Nasalgeräusche wie von einem Mammut mit Rüsselkatarrh. Diese stammen von selten gehörten Instrumenten wie der Bassklarinette oder gar dem vielfach gewundenen Serpent. Auch Albrecht Maurer begnügt sich nicht mit der Violine, sondern greift auf deren Urahnen aus dem Mittelalter zurück, auf Fidel und Rebec, stilecht mit Saiten aus Schafsdarm bespannt. Langsam gestaltet sich so etwas wie ein Dialog zwischen der melodischen Spieluhr und dem atonal anmutenden Trio. Einzelne Phrasen der Melodie nehmen Gestalt an, lösen sich auf, formieren sich aufs Neue, wandern von Instrument zu Instrument, derweil das Spielwerk sich immer langsamer dreht, bis es endlich zum Stillstand kommt. Sehr hübsch das Ganze. Geht das jetzt in der Art so weiter? Nein, das ist bloß der Auftakt. Die Spieldosen emanzipieren sich vom braven Abspulen. Dank moderner Technik oder beherztem Zuklappen spielen die Döschen ihre Melodie in verschiedenen Tempi, pausieren mittendrin oder setzen unvermutet wieder ein, sampeln einzelne Phrasen hintereinander oder spielen gar rückwärts, während das Trio munter drauflos musiziert, ganz eigene Klangflüsse ausbreitet, die mit den Glöckchentönen Kontakt aufnehmen oder sich auch heftige Gefechte liefern. Geisha tanzt Bolero. Wer hätte gedacht, dass die Schicksalsmelodie aus „Love Story“ hypnotische Qualitäten wie in der Minimal Music entwickelt? Dass Beethovens abgenudelte „Ode an die Freude“ neue Kraft gewinnt? Oder dass eine kleine Geisha den Bolero tanzt? Dass„Clair de Lune“ und „Greensleeves“ ungeahnte Qualitäten entwickeln?Auch das Auge bekommt einiges geboten, so illustrieren Il Lusorius ihr atemloses Spiel mit einem Trickfilm, in dem Matrjoschkas, Brummkreisel, mechanische Frösche, Liebespärchen und ein Entengeschwader miteinander Ballett tanzen. Zum großen Finale setzt ein halbes Dutzend Spieluhren gleichzeitig ein. Kaskaden von Glöckchenklängen purzeln durcheinander, das Ohr ist überfordert. Doch nie zuvor hat sich eine Kakophonie derart himmlisch angehört.

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Aus der Presse

aus dem Programmheft

von BR-Klassik

VON WOLFGANG SCHICKLER


Die Spieluhr steht für Nostalgie, für das Eintauchen in eine vergangene Traumwelt. Als Kind hat man mit den Klängen der Spieluhren vielleicht die Welt der alten Märchen und Sagen verbunden. Und so klingt in manchen Improvisationen von Il Lusorius – unterstrichen auch durch alte Instrumente wie Rebec und Serpent – die Musik mittelalterlicher Spielleute an. Ein anderes Mittel, das den Stil von Il Lusorius prägt, ist die musikalische Groteske, das schräge Gewirr von verschiedenen gleichzeitig gespielten Melodiefetzen, eine furiose Collage unserer atemlosen Zeit. Zurück geht dieser Ansatz auf die frühe musikalische Moderne in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als Komponisten versuchten, den rastlosen Puls ihrer Epoche in Musik einzufangen – man denke nur an Passagen aus der Tondichtung „Ein Amerikaner in Paris“, in der George Gershwin Melodien bekannter Schlager mit Hupen Pariser Taxis mischt. Oder an Charles Ives‘ „Central Park in the dark“, einer nächtlichen Szenerie, bei der die Geräusche von Straßenmusikern, Ragtimekapellen, Zeitungsjungen und Kneipengängern in die Ruhe des Parks herüberwehen.

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VON THORALF WINKLER


Bevor das Konzert in der Kulturwerkstatt, dem kleinen Podium für Konzerte und ähnliches, hinter dem "Stübchen" in der Festung Mark beginnt, kann man auf der Bühne schon die Instrumente liegen sehen – und man sieht einen Tisch voller unterschiedlicher Spieluhren dort stehen. Spieluhren (genauer gesagt: Spieldosen, wie Meike Herzig später erklären wird), die die Leiterin des Trios an vielen Orten sammelte. Am weitesten gereist ist eine japanische Geisha, am skurilsten ein Klorollenhalter, der durch das Abrollen des Papiers aufgezogen wird und dann Musik macht. Dazwischen alles was denkbar ist, ein Symphonion mit wechselbaren Lochplatten, kleine Spielzeuge mit Kurbel oder eine Spieldose, auf der sich ein Karussell dreht. 


Um ihre kleinsten Instrumente – ihre Spieldosen – für das Publikum sichtbar und erlebbar zu machen, haben die Musiker eine Kamera mitgebracht, die die Bewegung der Spieluhren, teilweise sogar der Zahnräder darin, auf die große Leinwand hinter ihnen projiziert. Als dann die Musik der ersten Spieldose erklingt, la vie en rose, eine französische Melodie, zu der eine zierliche Tänzerin vor einem Spiegel Pirouetten dreht, dann kommt ein Gefühl auf, im Kino zu sitzen und einen Dokumentarfilm mit Live-Begleitung zu sehen. Die Musiker lauschen den ersten Takten, dann nehmen Meike Herzig an der Flöte, Annette Maye an der Klarinette und Albrecht Maurer an der Geige die Klänge mit ihren Instrumenten auf. Spielen erst parallel zum mechanischen Musikspielzeug, bis Meike Herzig nach einigen Zyklen der sich wiederholenden Melodie den Deckel der Spieldose schließt und die Musiker weiterspielen, die Melodie nun frei improvisierend und verändernd. Auf der Leinwand dreht sich die Tänzerin (nun vom Computer aus eingespielt) weiter, als würde sie sich nun zur Musik des Trios drehen. Am Ende klappt Meike Herzig den Deckel wieder auf, die Musik passt sich der langsamer werdenden Spieldose an und und verklingt leise. Ein bezauberndes Gefühl beim Erleben dieser Mischung aus mechanischen und akustischen Instrumenten stellt sich ein.


Wohl jeder hat schon an der Kurbel von Spieldosen gedreht, die Musik leise mitgesungen oder gesummt. Il Lusorius geht weit darüber hinaus, die Klänge schlicht nachzuspielen. Sie instrumentieren sie neu, experimentieren, geben ihnen mit auch ungewohnten Instrumenten neue Stimmen. So greift Meike Herzig zum Serpent, dem schlangenförmig gewundenen Blechblasinstrument aus dem 16. Jahrhundert, mit dem sie tiefe Borduntöne erzeugt und aus "Hänschen klein" Musik macht, die von der Atmosphäre auch auf einem Mittelalterfest erklingen könnte. Es folgt ein Duett von Klarinette und Spieluhr, später noch eine Komposition von Anette Maye: "Swiss Jodelbär", nach der schweizer Herkunft einer der alten Spieluhren benannt. Albrecht Maurer spielt nach ersten originalen Bildern Filmsequenzen ein. Er nutzt dazu eine Art Video-Keyboard, dessen Tasten statt mit Tönen mit Videos belegt sind, die auf die Leinwand geworfen werden. Das Auge läßt sich von den Bildern ablenken, schaut auf die Leinwand statt auf die Musiker – die Ohren hören die Live-Klänge.


Auch Albrecht Maurer hat eine Besonderheit mitgebracht: den Nachbau einer gotischen Fidel, die sich auf eine Abbildung im Magdeburger Dom zurückführen lässt. Geschaffen von Instrumentenbauer Thilo Viehrig aus Naumburg. "Und eine Seltenheit", wie Maurer betont. Darauf erklingt eine "Bagatelle für Spieluhr und Spieltrio". Anschließend ist es wieder an Meike Herzig, ein ungewöhnliches Instrument hervorzuholen. Diesmal ist es eine Subbassblockflöte, die größte Blockflötenart – und eher eine riesige Orgelpfeife als das kleine Instrument aus der Schulzeit. Ein riesiger, langer Kasten aus Holz, dessen tiefe Töne zum Tanz von zwei Figuren eine düstere Schicksalsmelodie spielen. 


In seiner Komposition "Spieluhr aus Tonstrom" vertauscht Albrecht Maurer die Rolle von Musikern und mechanischen Instrumenten, komprimiert die Eigenschaften der Instrumente zu einem wahnwitzigen Mix und fordert die Fähigkeiten der Musiker heraus. In ständigen Wiederholungen musikalischer Muster wird das Trio selbst zur Spieluhr. Eine interessante Antwort auf das Prinzip der mechanischen Spieldosen.


In der Pause erklärt Meike Herzig die Herkunft ihrer Spieldosen. "Anfangs bekam ich sie auf Flohmärkten", sagte sie, "heute aber öfter auch bei den ebay-Kleinanzeigen". Ein Problem dabei: meist sind nur Fotos der Spieldosen zu sehen. "Dann habe ich oft auch bei den Verkäufern angerufen und mir am Telefon die Melodie vorspielen lassen". Denn nicht jede Spieldose eignet sich, manche klingen zu hoch und passen nicht zu den Instrumenten. Und an noch etwas muß sie bei den Spieldosen denken: sie laufen von Umdrehung zu Umdrehung ein kleines Stück langsamer und bleiben dann stehen – was mitten im Stück nicht passieren soll. "Ich habe für jedes Stück und für jede Spieldose aufgeschrieben, wie viele Umdrehungen ich sie aufziehen muss", sagt sie. 


Als das Trio "Green Sleeves" anstimmt, machen die Musiker aus einer der bekanntesten irischen Melodie eine "Musik für Spieldose und Variationen". Die Spieldose spielt von Runde zu Runde beharrlich die gleichen Töne, die Musiker variieren sie, so daß dann jede Strophe anders klingt. Diesmal lassen sie die Spieldose so lange drehen, bis sie immer langsamer werdend, Ton für Ton verklingt. Das melancholische Gefühl beim Hören der Spielzeuginstrumente stellt sich wieder ein, wenn man sich zum Schluss bei jedem Ton fragt, ob er denn nun der letzte Ton sei. Und dann kommt doch noch einer und noch einer, bis das letzte Lebenszeichen verklingt.


Das Konzert bot Musik, die sich schwer einordnen läßt. Ist es nun Jazz, Klassik, Filmmusik oder musikalisches Experiment? Wahrscheinlich von jedem etwas – und vor allem: ein faszinierendes Erlebnis.





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